Mut statt CAS-Zertifikat
27.05.2021
Wir schreiben das Jahr 2021 und feiern 50 Jahre Frauenstimmrecht. Unglaublich, erst 50 Jahre. Kein Wunder, machen die Frauen mobil und thematisieren die Ungleichbehandlung. Über Gleichstellung der Geschlechter sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird schon lange diskutiert. Es sind viele Bewegungen und Programme am Laufen. Gesetze werden geschaffen, Reglemente erarbeitet, Stellenbeschreibungen gendergerecht formuliert. Reicht das?
Grösstes Hindernis – wie bei vielen Themen – ist die Einstellung. Dabei ist es nicht nur die Haltung gegenüber der Gleichstellung der Geschlechter, sondern auch gegenüber der Familien(-arbeit) allgemein. „Nein, ich arbeite nicht, also nur zu Hause.“ Oder: „Mein Arbeitgeber würde es erlauben, dass ich mein Pensum reduziere und einen Tag zu Hause bleibe. Welche Chancen habe ich dann noch, wenn es um eine Beförderung geht.“ Aussagen, welche deutlich machen, dass Familienarbeit – egal von welchem Elternteil sie ausgeübt wird – einen geringen Wert in der Wirtschaft geniesst und frau bzw. man sich oft sogar dafür schämen.
Unterschätzte Kompetenzen als Eltern
Empathie, Problemlösung und Flexibilität sind die Fähigkeiten der Zukunft gemäss verschiedenen Analysen. Und genau diese Kompetenzen lernen wir mit unseren Kindern zu Hause – wir hören ihnen zu, wenn sie bedrückt sind. Wir lösen Probleme und wir müssen flexibel sein, wenn ein Kind erkrankt. Wir dürfen vermitteln, wenn verschiedene Sichtweisen aufeinander prallen. Wir fördern und motivieren. Wir trainieren diese Kompetenzen täglich, über Jahre, nicht nur im Wochenend-Seminar anhand von Fällen, sondern mit unseren eigenen Kindern. Der Lernort Familie eignet sich also bestens, um die in Zukunft in der Wirtschaft benötigten Kompetenzen zu stärken.
Ersetzt Mut das Zertifikat?
Bei Bewerbungen und Beförderungen können wir die täglich informell trainierten Kompetenzen nicht durch einen Masterabschluss oder ein CAS-Zertifikat nachweisen. Wie können wir die zukünftigen Chefs überzeugen? Es ist an uns Eltern, unserer Einstellung zu unseren Fähigkeiten zu ändern, unsere Kompetenzen zu zeigen, diese Erfahrungen zu „verkaufen“ – auch wenn es im ersten Moment vielleicht ein Lächeln des Gegenübers bewirkt. Es braucht Mut von berufstätigen Eltern, diesen Schritt zu machen. Und wir brauchen mutige Chefinnen und Chefs sowie fähige Personalabteilungen, welche den informell erworbenen Kompetenzen vertrauen und nicht nur den Zertifikaten. Es gibt noch viel zu tun – packen wir es an!
Andreas Wieser ist Vater von 3 Kindern und verantwortlich für das Kompetenzzentrum Stiftungen der Von Graffenried Gruppe. Er ist zudem tätig als Organisationsentwickler und Business-Trainer.